erschienen in “Care Konkret” am 15.03.2024
In Nordrhein-Westfalen formiert sich die private ambulante Pflegebranche im Kampf um das wirtschaftliche Überleben.
Die Zeit drängt — da sind sich alle einig. Finanzielle Reserven sind oft aufgebraucht, privates Vermögen wird für Löhne und Gehälter eingesetzt. Das Ende des eigenen Unternehmens vor Augen, machten sich Unternehmer der Pflegebranche beim Runden Tisch am 29. Februar in Wuppertal Luft.
Michael Wessel, Inhaber Pflege Wessel, hatte eingeladen – und diesmal kamen sie. Sie warfen Konkurrenzdenken und Stolz über Bord und demonstrierten stattdessen Einigkeit.
Denn seit mehr als einem Jahr eint die privat geführten ambulanten Pflegedienste der Kampf ums wirtschaftliche Überleben — und das nach teilweise 30 oder 40 Jahren Selbstständigkeit. Der Tenor: Es geht nur gemeinsam. Und nur mit viel Druck auf die Politik.
23 Unternehmer aus Hessen, Aachen, Münster sowie dem Raum Wuppertal und Mettmann sitzen am runden Tisch, dazu ein Vertreter des bpa, des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste. Der bpa hat allein in NRW rund 2.300 Mitglieder. Vom VDAB, bad oder auch vom Landesverband freie ambulante Krankenpflege NRW (LfK) war niemand gekommen. Besonders der LfK wurde dafür von mehrern Teilnehmenden in deutlichen Worten kritisiert.
„Wo waren Sie, als wir im Sommer 2022 davor gewarnt haben, dass die Tarifpflicht Unternehmen in die Insolvenz treiben würde?“, fragt Michael Wessel den bpa-Vertreter David Schulz. In die Insolvenz deshalb, weil die Obergrenze der Pflegegrade seitdem immer noch nicht angehoben wurde, dafür aber die Einzelleistungen teurer geworden sind, so die Kritik. Das gehe zu Lasten der Pflegebedürftigen, denn entweder können nun weniger Leistungen erbracht werden oder die Pflegedienste zahlen drauf. „Und das geschieht überall“, sagt Knut Damerow, Lebensplus GmbH in Aachen.
„Wir machen unsere Arbeit mit Herzblut für die Pflegeempfänger, wir können sie doch nicht allein lassen!“ Gemeinsam mit der Cura Ambulante Pf legedienste GmbH in Aachen haben die Unternehmen bereits am 21. Februar einen Protesttag auf die Straße gebracht (care konkret 9/2024).
Initiatorinnen und Inititatoren der Aktion „Pflege tut Not“ sind Knut Damerow, Alice Hubertz, Georg Pähler (Interview unten) und Norbert Vongehr. Der Runde Tisch in Wuppertal ist ein willkommenes Vernetzungstreffen. „Wir müssen mehr werden und so schnell wie möglich zum Düsseldorfer Landtag und nach Berlin“, so der Tenor der Anwesenden.
Auch die Bevölkerung müsse wachgerüttelt werden. Doch weder Pflegebedürftige noch pflegende Angehörige seien auf die Straße zu bewegen. „Wenn sie nicht zu uns kommen können, gehen wir zu ihnen“, sagt Norbert Vongehr, Cura Aachen.
Mit ihrer Aktion, kurze Videos zu drehen, haben sie mitten ins Herz getroffen. „Wir haben Pflegebedürftige gefragt, was sie tun werden, wenn demnächst kein ambulanter Dienst mehr zu ihnen kommt. Die Antworten haben uns zum Weinen gebracht“, sagt Vongehr.
Denn in den meisten Fällen haben diese Menschen keine Kinder oder Freunde, die die Pflege übernehmen könnten. Also wünschen sie sich einen schnellen Tod.
„Wir haben jetzt schon Pflegeempfänger, die auf das Waschen verzichten und stattdessen das Geld fürs Essen brauchen.“
Das sagen alle Anwesenden: Dringend notwendige Körperpflege wird nicht in Anspruch genommen, weil die Betroffenen das Pflegegeld für Essen brauchen. Ein erschreckendes Signal. „Die Politik hat offensichtlich nur ein Ziel: die ambulante Pflege abzuschaffen“, sagt Damerow.
„Wir stehen politisch vor dem Problem, dass in den restlichen anderthalb Jahren dieser Legis-laturperiode niemand mehr das Thema aufgreift. Da wird sich im beginnenden Wahlkampf nur um sich selbst und den eigenen Postenerhalt gekümmert“, sagt Wessel. „Und unternehmerisch vor dem Problem, dass die meisten von uns keine anderthalb Jahre mehr haben.“
Harte Worte, Pflege Wessel hat mehr als 250 Mitarbeiter. Die Krankenkassen zahlen teilweise erst nach Monaten statt wie vertraglich vereinbart nach 14 Tagen – für alle Unternehmen eine untragbare finanzielle Belastung. „Auf eine Zahlung des LVR in Höhe von 1,2 Millionen Euro mussten wir zwölf Monate warten“, berichtet Wessel.
Die Frustration liegt bleischwer im Raum, viele haben die Konsequenzen längst zu Ende gedacht. Daraus erwächst im Moment Tatendrang statt Resignation. Neben dem wichtigsten Punkt, der Vernetzung mit vielen anderen Pflegediensten, hat die Runde einen Forderungskatalog aufgestellt, der an Landes- und Bundesregierung geschickt werden soll. Denn Geld sei genug da, es müsse nur anders verteilt werden, meint Wessel.
Statt Steuergelder ins Ausland zu schicken, müsse ein fester Zuschuss in die Pflegekassen fließen, um die Arbeit der ambulanten Dienste auskömmlich zu refinanzieren. Zudem müsse gelten: Gleiche Arbeit, gleicher Lohn.
„Wenn ich Tarife zahle, brauche ich auch den Punktwert der Caritas“, sagt Thomas Mosel, Comfort Pflege Ostviertel in Münster. Das heißt, die Leistung muss gleich bezahlt werden. Und: Wer nicht selbst ausbildet, soll sich an den Kosten beteiligen. Denn die ambulanten Dienste zahlen immense Summen für die Auszubildenden, während weder das Land noch die Personaldienstleister ausbilden – die dann aber davon profitieren.
„Zeitarbeit ist Ausbeutung. Den Pflegekräften gönn’ ich alles Geld der Welt, aber ich kann dafür nicht an das Altersgeld meiner Patienten gehen“, sagt Damerow.
Viele weitere Forderungen stehen auf der Liste, doch alle sind sich bewusst, dass sich dadurch zunächst nichts ändern wird. Über eines sind sich aber die Meisten einig: „Es geht nur auf der Straße – und das muss allen klar sein.“
Die Ambitionen sind groß und der Leidensdruck noch größer. Dass solche Initiativen durchaus für Aufmerksamkeit und politische Beachtung sorgen können, zeigen Initiativen von Pflegediensten in Niedersachsen oder Mecklenburg Vorpommern.
Hervorgegangen aus der Initiative „Pflege in Not Mecklenburg-Vorpommern“ startete vor wenigen Wochen das Bündnis „Zukunftsfeste Pflege“ in Mecklenburg-Vorpommerns einen landesweiten Bürgerdialog mit Verbandsvertretern, Krankenkassen und der Landespolitik. Auch hier hatte das Bündnis mehrfach auf die unzureichende finanzielle und personelle Ausstattung in der ambulanten Pflege hingewiesen und gegen die Politik der Bundesregierung protestiert (siehe auch Beitrag auf Seite 11 dieser Ausgabe).
Das nächste Vernetzungstreffen der Pflegedienste aus Nordrhein-Westfalen ist am 20. März um 18 Uhr in der Gastwirtschaft Kommer in Aachen-Forst geplant. Anmeldungen dafür sind beim Netzwerk bis zum 18. März noch möglich. facebook.com/haeuslichepflegetutnot
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